"Und er rief die Volksmenge samt seinen Jüngern zu sich und sprach zu ihnen: Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach! Markus 8:34
Seinen Jüngern waren die kommenden Ereignisse noch unbekannt; aber die Zeit war nahe, da sie Zeugen seines letzten Ringens werden mußten. Sie mußten sehen, wie der, den sie geliebt und dem sie vertraut hatten, in die Hände seiner Feinde überantwortet und ans Kreuz geschlagen würde. Bald mußte er sie verlassen. Dann mußten sie der Welt allein gegenübertreten — ohne den Trost seiner Gegenwart. Der Heiland wußte, daß bitterer Haß und Unglaube sie verfolgen würden, und er wollte sie auf diese Prüfungen vorbereiten. LJ 406.3
Ehe er ihnen von seinen bevorstehenden Leiden erzählte, ging er ein wenig abseits und betete, daß ihre Herzen bereit seien, seine Worte aufzunehmen. Als er sich wieder zu ihnen gesellte, sagte er ihnen nicht sofort, was er ihnen zu sagen hatte, sondern gab ihnen erst Gelegenheit, ihren Glauben an ihn zu bekennen, damit sie dadurch für die kommenden Schwierigkeiten gestärkt würden. Er fragte sie: “Wer sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei?” Matthäus 16,13. LJ 407.2
Jesus stellte nun eine andere Frage an sie: “Wer saget denn ihr, daß ich sei? Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!” Matthäus 16,15.16. LJ 407.4
Jesus antwortete Petrus und sprach: “Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.” Matthäus 16,17. LJ 408.2
Nach dem Bekenntnis des Petrus gebot Jesus den Jüngern, niemandem zu sagen, daß er Christus sei. Diesen Auftrag gab er ihnen wegen des entschlossenen Widerstandes der Schriftgelehrten und Pharisäer; außerdem hatten das Volk und selbst die Jünger eine so falsche Vorstellung von dem Messias, daß eine öffentliche Ankündigung ihnen nicht den richtigen Begriff von seinem Wesen und seiner Aufgabe geben würde. Aber Tag für Tag offenbarte er sich ihnen als Heiland. Auf diese Weise wollte er ihnen ein richtiges Verständnis seines Wirkens als Messias geben. LJ 411.1
Lies Markus 8:22-30. Warum brauchte Jesus zwei Berührungen, um den Blinden zu heilen, und welche Lehren ergeben sich aus diesem Bericht?
“Und Jesus ging vorüber und sah einen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er ist blind geboren? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm ... Da er solches gesagt, spie er auf die Erde und machte einen Brei aus dem Speichel und legte den Brei auf des Blinden Augen und sprach zu ihm: Gehe hin zu dem Teich Siloah, das ist verdolmetscht: gesandt, und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend.” Johannes 9,1-3.6.7. LJ 466.6
Auch die Jünger teilten den Glauben der Juden über die Beziehung von Sünde und Leiden. Als Jesus ihren Irrtum berichtigte, sagte er ihnen jedoch nichts über die Ursache der Heimsuchung des Mannes, sondern verwies sie auf das Ergebnis: Es sollten “die Werke Gottes offenbar werden”. Johannes 9,3. Jesus stellte fest: “Dieweil ich bin in der Welt, bin ich das Licht der Welt.” Johannes 9,5. Als er dann die Augen des Blinden mit einem Brei belegt hatte, schickte er ihn zum Teich Siloah, um sich dort zu waschen. Danach konnte der Blinde wieder sehen. Durch dieses Geschehen beantwortete Jesus die Frage seiner Jünger, wie er es im allgemeinen tat, wenn ihm Fragen aus purer Neugier vorgelegt wurden. Die Jünger sollten sich nicht über das Problem streiten, wer gesündigt oder nicht gesündigt hatte, sie sollten vielmehr die Allmacht und Gnade Gottes begreifen, die dem Blinden das Augenlicht wiedergab. Es lag klar auf der Hand, daß weder der Lehmbrei noch der Teich, in dem sich der Blinde gewaschen hatte, Heilkräfte besaßen, sondern allein Christus. LJ 467.4
Die Pharisäer konnten nicht umhin, sich über diese Heilung zu wundern. Doch mehr als zuvor waren sie von Haß erfüllt; denn das Wunder war an einem Sabbat geschehen. LJ 468.1
Die Nachbarn des jungen Mannes und alle, die ihn als Blinden gekannt hatten, sagten nun: “Ist dieser nicht, der dasaß und bettelte?” Johannes 9,8. Zweifelnd schauten sie ihn an; denn nachdem seine Augen geöffnet waren, sah sein Gesicht ganz anders aus als vorher: es strahlte, und er schien ein anderer Mensch zu sein. Die Frage ging reihum. Einige meinten: “Er ist’s”, andere wieder: “Nein, aber er ist ihm ähnlich.” Er selbst aber, dem dieser große Segen zuteil geworden war, löste das Problem mit dem Bekenntnis: “Ich bin’s.” Johannes 9,9. Er erzählte ihnen dann von Jesus und wie dieser ihn geheilt hatte. Darauf fragten sie: “Wo ist er? Er sprach: Ich weiß nicht.” Johannes 9,12. LJ 468.2
Lies Markus 8:31-38. Was lehrt Jesus hier über die Kosten der Nachfolge Christi?
Seit der Zeit fing Jesus Christus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin nach Jerusalem gehen und viel leiden ... und getötet werden und am dritten Tage auferstehen.” Matthäus 16,21. LJ 411.3
Sprachlos vor Erstaunen und Kummer hörten ihm die Jünger zu. Der Heiland hatte das Bekenntnis des Petrus von ihm als dem Sohn Gottes angenommen; nun schienen seine Worte von Leiden, Not und Tod unbegreiflich. Petrus konnte nicht länger an sich halten: “Herr”, rief er und faßte seinen Meister fest bei der Hand, als wollte er ihn vor dem ihm drohenden Unheil bewahren, “das verhüte Gott! Das widerfahre dir nur nicht!” Matthäus 16,22. LJ 412.1
Satan wollte Jesus entmutigen und ihn von seiner Mission ablenken, und Petrus in seiner blinden Liebe lieh dieser Versuchung seine Stimme. Der Fürst alles Bösen war der Urheber dieses Gedankens; er flüsterte dem Petrus jenen voreiligen Wunsch ein. In der Wüste hatte Satan dem Heiland die Herrschaft der Welt unter der Bedingung angeboten, daß er den Pfad der Erniedrigung und Aufopferung verlasse; jetzt kam er mit der gleichen Versuchung zu dem Jünger, um dessen Blick auf die irdische Herrlichkeit zu lenken, damit er das Kreuz, auf das der Herr die Augen der Jünger richten wollte, nicht wahrnehme. LJ 412.3
Durch Petrus trat Satan nun wiederum mit der Versuchung an Jesus heran; aber dieser beachtete sie diesmal nicht; seine Gedanken waren bei seinen Jüngern. Satan war zwischen Jesus und Petrus getreten, damit des Jüngers Herz nicht ergriffen würde von jener Zukunftsschau, die Christi Erniedrigung um seinetwillen zeigte. Jesus sprach die scharfen Worte nicht zu Petrus, sondern zu dem, der Petrus von ihm zu trennen versuchte. “Hebe dich, Satan, von mir!” Dränge dich nicht länger zwischen mich und meinen irrenden Diener, laß mich Petrus von Angesicht zu Angesicht sehen, damit ich ihm das Geheimnis meiner Liebe offenbaren kann! LJ 413.1
Es war eine bittere Lehre für Petrus, die er nur langsam begriff; es wurde ihm schwer, zu verstehen, daß seines Meisters Weg durch Leiden und Erniedrigung gehen müsse. Der Jünger schreckte unwillkürlich zurück vor einer Leidensgemeinschaft mit seinem Herrn; in der Hitze des Feuerofens jedoch mußte er den Segen einer solchen Gemeinschaft lernen. Lange nachdem seine Gestalt durch die Last der Jahre und der Arbeit gebeugt war, schrieb er: “Ihr Lieben, lasset euch die Hitze nicht befremden, die euch widerfährt, daß ihr versucht werdet. Meinet nicht, es widerführe euch etwas Seltsames, sondern freuet euch, daß ihr mit Christus leidet, auf daß ihr auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben möget.” 1.Petrus 4,12.13. LJ 413.2
Jesus erklärte nun seinen Jüngern, daß sein Leben der Selbstverleugnung für sie beispielgebend sein sollte; dann rief er das Volk, das sich in der Nähe aufhielt, zu sich und sagte: “Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.” Matthäus 16,24. Das Kreuz erinnerte an die Macht Roms; es war das Sinnbild der schmählichsten und grausamsten Todesart. Die niedrigsten Verbrecher mußten das Kreuz selbst zur Richtstätte tragen; hiergegen sträubten sie sich oft mit so verzweifelter Heftigkeit, bis sie schließlich überwältigt wurden und man ihnen das Kreuz auf ihren Schultern festband. Jesus aber gebot seinen Nachfolgern, das Kreuz freiwillig auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen. Seine Worte, die die Jünger nur unklar verstanden, wiesen sie hin auf die Notwendigkeit, sich in die bittersten Leiden zu schicken, ja sogar den Tod um Christi willen auf sich zu nehmen. Eine größere Hingabe konnten die Worte des Heilandes nicht ausdrücken. Er selbst hatte dies alles auch um ihretwillen auf sich genommen. Ihn verlangte nicht nach dem Himmel, solange wir Sünder verloren waren; er vertauschte die himmlischen Höfe gegen ein Leben der Schmach und tiefsten Beleidigungen; er litt um unsertwillen den Tod der Schande. Er, der reich war an den unschätzbaren Gütern des Himmels, wurde arm, damit wir durch seine Armut reich würden. Wir aber müssen den Weg gehen, den auch er ging. LJ 413.3
“Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.” Matthäus 16,25. Selbstsucht bedeutet Tod! Kein Organ des Körpers könnte leben, wenn es seine Wirksamkeit nur auf sich selbst beschränken wollte. Würde das Herz sein Lebensblut nicht in Hand und Kopf leiten, verlöre es bald seine Kraft. Wie unser Blut, so durchdringt die Liebe Christi alle Teile seines geheimnisvollen Leibes. Wir sind untereinander Glieder; jede Seele, die sich weigert, den andern als Bruder anzusehen, wird umkommen. “Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse?” Matthäus 16,26. LJ 414.2
Lies Markus 9:1-13. Was haben Petrus, Jakobus und Johannes in einer Nacht mit Jesus gesehen?
Der Abend bricht schon herein, da ruft Jesus drei seiner Jünger — Petrus, Jakobus und Johannes — zu sich und führt sie über Felder und unebene Wege auf einen einsamen Berg. Der Heiland und die Jünger haben den Tag mit Wandern und Lehren verbracht; nun ermüdet sie der ziemlich beschwerliche Weg merklich. Auch Christus, der seelische und körperliche Lasten von den Leidenden nahm, der Kranke gesund gemacht, Besessene geheilt und neues Leben in schwache Körper hat strömen lassen, ist gleich den Jüngern vom Aufstieg ermattet. LJ 416.1
Endlich macht Jesus halt; allein geht er jetzt ein wenig seitwärts und klagt unter Tränen dem himmlischen Vater seine große Not. Er bittet um Kraft, die Prüfung um der Menschen willen zu ertragen. Er muß sich neu stärken an dem Allmächtigen; nur dann[Der folgende Satz ist nach dem englischen Original zitiert.] Er muß einen neuen Halt an dem Allmächtigen gewinnen, denn nur so kann er getrost der Zukunft entgegensehen.kann er über die Zukunft nachdenken. Er legt seinem Vater auch seine Herzenswünsche für seine Jünger vor, damit in der Stunde der Finsternis ihr Glaube nicht wanken möchte. Nachttau fällt auf seine Gestalt; er merkt es nicht. Er achtet auch nicht der immer tiefer werdenden Dunkelheit. Die Stunden verrinnen. Anfangs vereinigen die Jünger ihre Gebete mit dem Gebet des Herrn in aufrichtiger Hingabe: bald aber hat die Müdigkeit sie überwältigt und — sie schlafen ein [engl.: nach einiger Zeit aber werden sie von Müdigkeit überwältigt und schlafen ein, obwohl sie versuchen, an dem Geschehen weiterhin Anteil zu nehmen]. Jesus hat ihnen von seinem Leiden erzählt und sie mitgenommen, um mit ihnen im Gebet vereint zu sein; gerade für sie betet er. Er hat die Traurigkeit der Jünger gesehen und sehnt sich danach, ihren Kummer durch die Versicherung zu bannen, daß ihr Glaube nicht vergebens sei. Doch nicht alle Zwölf können die Offenbarung, die er geben will, aufnehmen; nur die drei, die Zeugen seiner Seelenangst in Gethsemane sein sollen, hat er erwählt, mit ihm auf dem Berge zu sein. Er bittet seinen Vater, ihnen doch die Herrlichkeit zu zeigen, die er bei ihm hatte, ehe die Welt erschaffen war, daß sein Reich den menschlichen Augen offenbart und die Herzen der Jünger gestärkt werden möchten, dieses Reich zu schauen. Er fleht um eine Offenbarung seiner Göttlichkeit, damit sie in der Stunde seiner tiefsten Leiden getröstet sind durch die Erkenntnis, daß er wahrhaftig Gottes Sohn ist und sein schmählicher Tod zur Erfüllung des Erlösungsplanes gehört. LJ 416.4
Sein Gebet wird erhört. Während er sich demütig auf dem steinigen Boden vor Gott beugt, öffnet sich plötzlich der Himmel, die goldenen Tore der Stadt Gottes gehen weit auf, ein heiliger Glanz wirft sein Licht bis auf den Berg hinab und umhüllt die Gestalt Jesu. Das Göttliche in ihm leuchtet durch das Menschliche und begegnet der von oben kommenden Herrlichkeit; die hingestreckte Gestalt erhebt sich und steht in göttlicher Majestät auf dem Gipfel des Berges. Die Seelenqual ist von ihm gewichen; sein Angesicht leuchtet “wie die Sonne”, und seine Kleider sind “weiß wie das Licht”. Matthäus 17,2. LJ 417.1
Die Jünger erwachen; sie sehen die flutende Herrlichkeit, die den ganzen Berg erleuchtet, und schauen in Furcht und Staunen auf die glänzende Gestalt ihres Meisters. Als ihre Augen sich an das blendende Licht gewöhnt haben, sehen sie, daß Jesus nicht allein ist; zwei himmlische Wesen unterhalten sich mit ihm. Es sind Mose und Elia; [Der folgende Satz ist nach dem englischen Original zitiert.] Es sind Mose und Elia Mose, der auf dem Sinai mit Gott geredet hatte, und Elia, dem die große Gnade widerfuhr, daß er den Tod nicht zu schmecken brauchte.— Mose, der auf dem Sinai mit Gott geredet hatte, und Elia, dem das hohe Vorrecht gegeben wurde, das außer ihm nur einem anderen der Söhne Adams gewährt wurde, nämlich das Vorrecht, niemals unter die Macht des Todes zu kommen. LJ 417.2
Mose war auf dem Verklärungsberg Zeuge von Christi Sieg über Sünde und Tod; er war ein Sinnbild für alle, die bei der Auferstehung der Gerechten aus den Gräbern hervorgehen werden. Elia, der verklärt wurde, ohne den Tod gesehen zu haben, war das Vorbild derer, die bei Christi Wiederkunft auf Erden leben und “verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune” (1.Korinther 15,51.52), wenn “dies Verwesliche wird anziehen die Unverweslichkeit”. 1.Korinther 15,54. Jesus war mit dem Licht des Himmels bekleidet; so wird er zum andernmal erscheinen ohne Sünde zur Seligkeit; denn er wird kommen “in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln”. Markus 8,38. Nun war das Versprechen, das Jesus seinen Jüngern gegeben hatte, erfüllt. Auf dem Berge wurde ihnen — im kleinen — das zukünftige Reich der Herrlichkeit gezeigt: Christus, der König, Mose, der Vertreter der auferstandenen Gläubigen, und Elia, der Vertreter derer, die verwandelt werden “in einem Augenblick”. LJ 418.2
Die Jünger erfassen den Vorgang noch nicht; aber sie freuen sich, daß der geduldige Lehrer, der Sanftmütige und Demütige, der als schutzloser Fremdling hin und her gewandert ist, von den Begnadeten Gottes geehrt wird. Sie glauben, daß Elia gekommen sei, die Regierung des Messias zu verkündigen, und daß das Reich Christi jetzt aufgerichtet werden soll. Die Erinnerung an ihre Furcht und Enttäuschung wollen sie für immer verbannen. Hier, wo die Herrlichkeit Gottes offenbart wird, möchten sie verweilen. Petrus ruft begeistert aus: “Herr, hier ist für uns gut sein! Willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen, dir eine, Mose eine und Elia eine.” Matthäus 17,4. Sie glauben zuversichtlich, daß Mose und Elia gesandt wurden, ihren Meister zu schützen und sein Königreich auf Erden aufzurichten. LJ 418.3
Lies Markus 9:30-41. Was ist anders an Jesu zweiter Vorhersage über seinen Tod und seine Auferstehung (vergleichen Sie mit Markus 8:31)? Worüber streiten sich die Jünger, und welche Anweisungen gibt Jesus?
Auf seiner Reise durch Galiläa hatte Jesus wiederum versucht, seine Jünger auf die Ereignisse, die ihm bevorstanden, seelisch vorzubereiten. Er erzählte ihnen, daß er nach Jerusalem gehen müsse, um dort zu sterben und aufzuerstehen. Dann fügte er die seltsame und ernste Ankündigung hinzu, daß er an seine Feinde verraten werden sollte. Die Jünger verstanden seine Worte auch jetzt noch nicht. Obwohl große Sorge sie überschattete, waren ihre Herzen mehr mit Rangstreitigkeiten erfüllt. Sie zankten sich untereinander, wer im künftigen Reich der Größte wäre. Diesen Streit aber suchten sie vor Jesus zu verbergen. Deshalb gingen sie nicht wie gewöhnlich dicht an seiner Seite, sondern schlenderten hinter ihm her, so daß er vor ihnen her ging, als sie in Kapernaum eintrafen. Jesus durchschaute ihre Gedanken und wollte ihnen Rat und Belehrung erteilen. Dazu wartete er aber eine stille Stunde ab, in der ihre Herzen für seine Worte aufgeschlossen waren. LJ 427.2
Während Petrus zum See ging, weilte Christus mit den übrigen allein im Hause. Diese rief er zusammen und fragte sie: “Was habt ihr miteinander auf dem Weg verhandelt?” Markus 9,33. Die Anwesenheit Jesu und seine Frage ließen die Angelegenheit in einem völlig andern Licht erscheinen als vorher auf dem Wege, als die Jünger sich herumgestritten hatten, und so schwiegen sie aus Scham und Schuldgefühl. Jesus hatte ihnen mitgeteilt, daß er ihretwegen sterben müßte. Ihr selbstsüchtiger Ehrgeiz stand jetzt in schmerzlichem Gegensatz zu seiner selbstlosen Liebe. LJ 430.1
Jesus sagte ihnen, daß er sterben und wiederauferstehen werde, und versuchte dadurch, mit ihnen ein Gespräch über die große Glaubensprüfung anzuknüpfen, die ihnen bevorstand. Wären sie bereit gewesen, das aufzunehmen, was er ihnen mitteilen wollte, so wären ihnen bittere Not und Verzweiflung erspart geblieben. Seine Worte hätten sie in der Stunde der Verlassenheit und Enttäuschung getröstet. Obwohl er so deutlich über das gesprochen hatte, was ihn erwartete, entfachte die Erwähnung der Tatsache, daß er bald nach Jerusalem ziehen müsse, in den Jüngern erneut die Hoffnung, daß die Aufrichtung des Reiches unmittelbar bevorstehe. Dies hatte die Frage veranlaßt, wer dann die höchsten Ämter einnehmen sollte. Als Petrus vom See zurückgekehrt war, erzählten ihm die Jünger, was der Heiland sie gefragt hatte. Schließlich wagte es einer von ihnen, von Jesus wissen zu wollen: “Wer ist doch der Größte im Himmelreich?” Matthäus 18,1. LJ 430.2
Der Heiland scharte die Jünger um sich und erwiderte: “So jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener.” Markus 9,35. In diesen Worten lagen ein Ernst und ein Nachdruck, die den Jüngern unverständlich waren. Von dem, was Christus wahrnahm, sahen sie nichts. Noch verstanden sie das Wesen des Reiches Christi nicht, und diese Unkenntnis war die scheinbare Ursache ihres Streites. Der wahre Grund lag jedoch tiefer. Dadurch, daß er das Wesen des Reiches erklärte, konnte Christus ihren Streit vorübergehend schlichten, dessen eigentliche Ursache aber wurde nicht berührt. Selbst nachdem sie über alles Bescheid wußten, hätte jede Rangfrage den Streit wieder aufleben lassen können. Nach Christi Weggang wäre dadurch Unheil über die Gemeinde hereingebrochen. Im Streit um den ersten Platz bekundete sich der gleiche Geist, mit dem der große Kampf im Himmel begonnen und der letztlich auch Christus vom Himmel auf die Erde gebracht hatte, um dort zu sterben. Vor Jesus erstand das Bild Luzifers, des “schönen Morgensterns”, der an Herrlichkeit alle Engel überstrahlte, die den Thron Gottes umgaben, und der durch die engsten Bande mit dem Sohn Gottes verbunden war. Luzifer hatte gesagt: “Ich will ... gleich sein dem Allerhöchsten.” Jesaja 14,12-14. Dieser Wunsch nach Selbsterhöhung hatte Streit im Himmel verursacht und viele der Heerscharen Gottes aus seiner Gegenwart verbannt. Hätte Luzifer wirklich dem Allerhöchsten gleich sein wollen, dann würde er nie den ihm zugewiesenen Platz verlassen haben; denn das Wesen des Allerhöchsten zeigt sich in selbstlosem Dienen. Luzifer wollte zwar die Macht Gottes, aber nicht dessen Charakter. Für sich erstrebte er den höchsten Platz, und jedes Lebewesen, das von dem gleichen Geist beseelt ist, wird sich wie Luzifer verhalten. Auf diese Weise werden Entfremdung, Zwietracht und Streit unvermeidlich. Die Herrschaft fällt dem Stärksten zu. Das Reich Satans ist ein Reich der Machtentfaltung. Jedermann sieht im andern ein Hindernis für das eigene Vorwärtskommen oder eine Stufenleiter, auf der er eine höhere Stellung erklimmen kann. LJ 430.3
Während Luzifer es für ein erstrebenswertes Ziel hielt, Gott gleich zu sein, entäußerte Christus, der Erhöhte, “sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.” Philipper 2,7.8. Jetzt stand ihm das Kreuz unmittelbar bevor, seine Jünger aber waren so voller Selbstsucht, dem wahren Urgrund des Reiches Satans, daß sie mit ihrem Herrn weder übereinstimmten noch ihn verstanden, als er zu ihnen von seiner Erniedrigung sprach. LJ 431.1
Überaus besorgt und dennoch mit ernstem Nachdruck versuchte Jesus diesem Übel abzuhelfen. Er zeigte den Jüngern, welcher Grundsatz im Himmel herrscht und worin nach dem Maßstab Gottes wahre Größe besteht. Wen Stolz und Ehrsucht bewegen, denke nur an sich selbst und an den Lohn, der ihm zustünde, nicht aber daran, wie er Gott die verliehenen Gaben zurückerstatten könne. Ins Himmelreich kämen solche Menschen nicht, da man sie den Reihen Satans zurechnen würde. LJ 431.2
Lies Markus 9:42-50. Was verbindet die Lehren Jesu in dieser Passage miteinander?
Es genügte nicht, daß die Jünger Jesu über das Wesen seines Reiches unterrichtet wurden. Vor allem mußten ihre Herzen umgestaltet werden, damit sie mit den in diesem Reiche herrschenden Grundsätzen übereinstimmten. Jesus rief deshalb ein kleines Kind zu sich, stellte es mitten unter die Jünger, nahm es liebevoll in die Arme und sagte: “Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.” Matthäus 18,2.3. Die Schlichtheit, Selbstvergessenheit und zutrauliche Liebe eines kleinen Kindes sind jene Eigenschaften, die der Himmel schätzt. Sie kennzeichnen wahre Größe. LJ 432.3
Die Worte des Heilandes riefen in den Jüngern ein Gefühl des Mißtrauens gegenüber der eigenen Haltung hervor. Auf keinen von ihnen war Jesu Entgegnung gemünzt. Dennoch veranlaßte sie Johannes zu der Frage, ob er in einem besonderen Fall richtig gehandelt habe. Wie ein Kind trug er Jesus die Angelegenheit vor: “Meister, wir sahen einen, der trieb böse Geister in deinem Namen aus, aber er folgt uns nicht nach; und wir verboten’s ihm, weil er uns nicht nachfolgt.” Markus 9,38. LJ 433.3
Jakobus und Johannes meinten für die Ehre ihres Herrn einzutreten, als sie diesem Manne wehrten. Doch nun dämmerte es ihnen, daß sie auf ihre eigene Ehre bedacht gewesen waren. Sie erkannten ihren Irrtum und nahmen Jesu Tadel hin: “Ihr sollt’s ihm nicht verbieten. Denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, kann bald übel von mir reden.” Markus 9,39. Niemand, der in irgendeiner Weise Jesus freundlich begegnete, sollte zurückgewiesen werden. Es gab viele, die durch das Wesen und Wirken Christi tief berührt waren und deren Herzen sich ihm im Glauben auftaten. Die Jünger, die die Beweggründe der Menschen nicht erkannten, sollten sich daher hüten, diese Menschen zu entmutigen. Wenn Jesus nicht länger persönlich unter ihnen weilte und das Werk ihren Händen anvertraut wäre, dann sollten sie sich nicht engherzig erweisen und andere ausschließen, sondern das gleiche umfassende Mitgefühl bekunden, das sie bei ihrem Meister gesehen hatten. LJ 433.4
Der Umstand, daß jemand nicht auf allen Gebieten mit unseren persönlichen Vorstellungen und Meinungen übereinstimmt, berechtigt uns noch nicht dazu, ihm die Arbeit für Gott zu verbieten. Christus ist der große Lehrer. Uns steht es nicht an, zu richten oder zu befehlen, sondern demütig sollte jeder von uns zu Jesu Füßen sitzen und von ihm lernen. Jedes Menschenherz, das Gott zubereitet hat, ist ein Werkzeug, durch das Christus seine verzeihende Liebe vermitteln will. Wie sorgfältig sollten wir darum sein, um ja keine Lichtträger Gottes zu entmutigen und dadurch die Strahlen zu unterbrechen, mit denen er die Welt erleuchten möchte! LJ 434.1
Die Härte oder Kälte, mit der ein Jünger Jesu jemandem gegenübertritt, den Christus zu sich zieht, entspricht dem Verhalten des Johannes, der einen Mann daran hinderte, Wunder im Namen Christi zu tun. Die Folge kann sein, daß der Zurückgewiesene den Weg des Feindes einschlägt und verlorengeht. Ehe jemand so etwas täte, “dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde”. Er fügte hinzu: “Wenn aber deine Hand dir Ärgernis schafft, so haue sie ab! Es ist dir besser, daß du als ein Krüppel zum Leben eingehest, als daß du zwei Hände habest und fahrest in die Hölle, in das ewige Feuer, wo ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht. Wenn dir dein Fuß Ärgernis schafft, so haue ihn ab! Es ist besser, daß du lahm zum Leben eingehest, als daß du zwei Füße habest und werdest in die Hölle geworfen.” Markus 9,42-45. LJ 434.2
Weshalb diese ernste Sprache, die nachdrücklicher nicht sein kann? Weil “des Menschen Sohn ... gekommen” ist, “selig zu machen, was verloren ist”. Matthäus 18,11. Sollen sich seine Jünger weniger um die Seelen ihrer Mitmenschen kümmern als der Herrscher des Himmels? Jede Seele hat einen unendlichen Preis erfordert. Wie furchtbar ist da die Sünde, eine Seele zur Abkehr von Christus zu bewegen, so daß für sie die Liebe, die Erniedrigung und der Todeskampf des Erlösers vergeblich waren! LJ 434.3
Wenn Sie also das Reich Gottes zu Ihrem Hauptinteresse machen, dann werden Sie sich mit Sicherheit zur richtigen Zeit am richtigen Ort befinden, das Richtige tun und Gottes reichsten Segen ernten. Sie können dann sicher sein, dass Gott Ihnen den Weg öffnet und Sie dorthin bringt, wo Sie sein müssen, selbst wenn er Sie aus dem Brunnen holen und den Ismaeliten befehlen muss, Sie nach Ägypten zu tragen und im Haus des Potiphar arbeiten zu lassen. Vielleicht muss er Sie sogar ins Gefängnis bringen, bevor er Sie mit Pharao auf den Thron setzt. Oder er lässt Sie aus Ägypten fliehen und lässt Sie am Berg Horeb Schafe hüten. Er kann Sie gegen das Rote Meer führen, während die Ägypter Sie verfolgen. Er kann Sie in die Wüste führen, wo es weder Wasser noch Nahrung gibt. Der Löwe und der Bär mögen kommen, um Ihre Lämmer zu reißen, Goliath, um Ihre Leute zu töten, und der König mag Sie in den Feuerofen oder in die Löwengrube werfen.
Ja, es können Hunderte und Tausende von Dingen geschehen, aber wer auf Gott vertraut und seine Arbeit gut macht, für den sind all diese so genannten Hindernisse oder Missgeschicke wunderbare Befreiungen und Wege zum Erfolg, die Gottes wunderbare Pläne ausführen und Gottes Weg zu Ihrem Aufstieg von einer großen Sache zur anderen sind. Wenn Sie sich in Gottes Obhut und unter Seiner Kontrolle befinden, sagen Sie niemals, dass der Teufel dies oder jenes getan hat, ganz gleich, was es ist, denn er kann nichts tun, es sei denn, es wird ihm erlaubt, es zu tun. Geben Sie immer Gott die Ehre.